Grundlinien eines offenen Forschungsrahmens

Das „Europäische Zentrum für Antiziganismusforschung“ (EZAF) ist eine wissenschaftliche Einrichtung, in der Wissenschaftler/innen aus verschiedenen Universitäten und Mitglieder der Rom- und Cinti-Union (RCU) eine Forschungsgemeinschaft bilden, die das Ziel verfolgt, antiziganistische Einstellungen und Handlungen in den Ländern, in denen Angehörige des Sinti- und Roma-Volkes leben, mit den Mittel der wissenschaftlichen Analytik systematisch zu untersuchen.

In dem Wissen, dass die traditionelle „Zigeunerforschung“ zu menschenverachtenden politischen Handlungen beigetragen hat, versucht EZAF auf der Basis philosophischer Reflexionen einen neuen Forschungsansatz, der in nicht-vergegenständlichender Form diskriminierende Denksysteme in den gesellschaftlichen Institutionen in Frage stellt.

Forschungsziele sind: Sensibilisierung in den institutionellen Diskursen anzustoßen und zugleich die Intellektuellen der Sinti- und Roma-Gemeinschaft in ihrem Kampf um gesellschaftliche Anerkennung und Integration zu ermutigen und zu unterstützen.

Die Forschungshypothese

Antiziganistische Vorurteile sind in weiten Bereichen der Bevölkerung, aber auch in den Medien und den gesellschaftlichen Institutionen weiterhin unaufgeklärt und manifest verankert. Sie werden in aller Öffentlichkeit ungefiltert geäußert. Es handelt sich offensichtlich um eine mentale und handgreifliche innergesellschaftliche Feinderklärung, mit der bekannten Folge, die Mitglieder der Minderheit von den gesellschaftlichen Verwirklichungschancen auszuschließen. Dies gilt es, genauer zu untersuchen.

Wissenschaft und Antiziganismus

Auf der Basis eines in den bürgerlichen Schichten und in der akademischen Welt weit verbreiteten Rassismus haben Wissenschaftler unter dem Signum der „Zigeunerforschung“ in der Zeit des Nationalsozialismus mit offenbar reinem Gewissen und „wissenschaftlichen“ Anspruch diskriminierende „Ermittlungen“ über Menschen – zuweilen auch unter Polizeischutz – empirisch erhoben und damit der brutalen Vertreibungs- und Vernichtungspolitik zugearbeitet.

Angesehene Wissenschaftler lieferten das Gedankenmaterial für eine verantwortungslose Politik, die dann diese Vorgaben praktisch umsetzte, wobei nicht selten wiederum akademisch gebildete Täter auch – z.B. als Führungskräfte im RSHA oder gar als Kommandeure der sog. Einsatzgruppen – selbst mit Hand anlegten.

Auch im demokratisch verfassten Nachkriegsdeutschland wurden Diskriminierung und Verfolgung der Roma und Sinti – zuweilen von den gleichen Personen und Ämtern, die für ihre frühere Verfolgung verantwortlich gewesen sind – , weiter betrieben. Diskriminierendes Denken kann aber auch in – dem Volk der Sinti und Roma gegenüber durchaus positiv gemeinten – sog. tziganistischen Forschungen angelegt sein, sofern sie in ihrem Forschungsansatz den vergegenständlichenden Blick vom Außenstandpunkt aus nicht verlassen, z.B. in sog. ethnologischen Studien über „zigeunerische Lebensweisen“. In diesem Forschungsinteresse werden soziale Verhaltensweisen zu einem ethnischen Habitus, zu einer Art volkstypischen Verhaltens verobjektiviert mit dem Ergebnis, Menschen der Roma und Sinti-Gemeinschaft zu „Objekten einer Sozialarbeit“ zu degradieren.

Bei aller Unterschiedlichkeit der Forschungsintentionen ist dem wissenschaftlichen Denken dieser Forschungsansätze jedoch eine grundlegende „Vergegenständlichungsoptik“ zu eigen – mit fatalen Folgen für die „Verobjektivierten“.

Ungeachtet der Tatsache, dass es die Wissenschaft nicht gibt und unabhängig davon, ob unsere Kritik an dem Vergegenständlichungs-Paradigma des modernen wissenschaftlichen Denkens in allen Fällen stichhaltig ist, bleibt es doch auch eine Tatsache, dass die Sinti und Roma in ihrer historischen Erfahrung „die“ Wissenschaft erlebt und in ihrem kollektiven Bewusstsein als eine Institution gespeichert haben, die sie sowohl theoretisch als auch praktisch „vergegenständlicht“ hat. Für diese Menschen steht „die Wissenschaft“ seither unter dem Verdacht, antiziganistisch zu sein.

Wir haben daraus Schlussfolgerungen zu ziehen.

Der Forschungsansatz

Die historisch reflektierte und wissenschaftsphilosophisch begründete ethische Haltung der Wissenschaftler/innen des EZAF orientiert sich an der Grundentscheidung, nicht über Roma und Sinti, auch nicht für sie, sondern mit ihnen zu forschen. Nicht die Roma und Sinti sind das zu untersuchende Problem. Das Problem ist das diskriminierende Denksystem im Alltagsleben und in den gesellschaftlichen (einschließlich der wissenschaftlichen) Institutionen der Mehrheitsgesellschaft, ein Denksystem, das die „Probleme“ erst erschafft. Praktisch führt diskriminierendes Denken dazu, Menschen „Verwirklichungschancen“ (Amartya Sen ) in der Gesellschaft vorzuenthalten. Hier kommen die gesellschaftlichen Organisationen ins Spiel. Sie markieren die Schnittpunkte des Zusammentreffens der Individuen mit materiell-institutionellen Bedingtheiten der Gesellschaft, konkret: das prekäre, historisch begründete Verhältnis der Sinti und Roma zu den Institutionen Schule, Polizei, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Kirche, Medien, etc., Einrichtungen also, denen ein in langer Tradition ausgebildeter vergegenständlichender Blick auf Menschen zu eigen ist.

Die Begriffsbildung des Forschungsansatzes ist deshalb von grundlegender Bedeutung. Begriffe können für das Lebensverständnis abschließend wirken, passivisieren, einschläfern, anschauungsleer und universalistisch sein, oder aber sie können Erfahrungen eröffnen, beunruhigen, Perspektiven entstehen lassen und handlungsmotivierend sein. Eine fragende Wissenschaft eröffnet Problemstellungen, ohne auf feststellende Lösungen fixiert zu sein. Institutionen wie beispielsweise die traditionelle Schule oder auch religiöse Prediger leben dagegen von Antworten, die sie in nicht-offene Fragen zurückübersetzen – und damit das Denken ruhig stellen.

EZAF versteht sich als offene Forschungseinrichtung und darüber hinaus auch als eine begriffsschöpfende Bildungsstätte für Junge Männer und Frauen aus der Sinti-und Roma-Gemeinschaft, die in die Untersuchungen als Experten ihrer je individuellen und kollektiven Erfahrung (in und mit der Schule, mit der Verwaltung, in den Überlieferungen des Familiendiskurses, mit der Polizei, in der Darstellung der Medien) mit einbezogen und zugleich zu Interviewern im Kreis der ethnischen Minderheit ausgebildet werden. Sie lernen Begriffe kennen, in denen sie ihre Erfahrungen zur Sprache bringen können.

Ziel dieses Bildungsangebots ist es, jungen Menschen aus der Sinti- Roma-Gemeinschaft die Möglichkeit zu eröffnen, sich zu dem heran zu bilden, was Antonio Gramsci „organische Intellektuelle“ nennt: Menschen, die den Kampf ihres Volkes um gesellschaftliche Anerkennung und Integration – bei Wahrung der Differenz – sozusagen „aus der Mitte heraus“ argumentativ stützen und begleiten.

Die Forschungsmethode

Wer nicht über Menschen oder für sie, sondern mit ihnen forscht, steht nicht außerhalb, oberhalb, unter oder neben seinem Forschungsobjekt, sondern mitten in ihm. Er betreibt soz. eine Forschung aus der Mitte heraus, dessen Teil er selbst ist.

Dieser wissenschaftskritische Ansatz ist nicht aus den fakultativ denkenden Wissenschaftsdisziplinen herzuleiten sondern aus philosophischer Sicht neu zu begründen. Wir beziehen uns hierbei auf die philosophischen Denkansätze von Heidegger, Foucault, Deleuze, Levinas, Bourdieu und auf den Nobelpreisträger und Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen.

Deshalb bleiben die folgenden Ausführungen auch notwendiger Weise abstrakt, können aber einen intellektuellen Raum bieten für die Kooperation der Wissenschaftler/innen von EZAF in den konkreten Forschungsvorhaben.

Einige Stichpunkte:

  • Die traditionelle wissenschaftliche Denkweise geht seit Descartes davon aus, dass ein transzendentales Ich (also ein Bewusstseins-Ich, das nicht in der Welt ist, sondern quasi von einem Außenstandpunkt die Welt in den Begriff nimmt) die Welt der Dinge und Menschen zum„Gegenstand“ seines forschenden Interesses macht. Vergleichbar mit der Tätigkeit eines Jägers, der das Wild mit einem ausgeklügelten System der Einkreisung stellt, um es mit den überlegenen Mitteln seines Tötungsinstrumentes zu erlegen. Martin Heidegger , von dem dieser Vergleich stammt, nennt dieses – auf wissenschaftliches Vorgehen bezogene – Beispiel, die Welt im transzendentalen Blick zum „Bestand“ festzustellen. Folglich spricht er auch nicht von Gesetzen, die der forschende Mensch der Natur einschreibt, sondern von „Gestellen“. Der wissenschaftliche Jäger ist durch sein Zielfernrohr hindurch reiner Blick auf die verwirrende Vielfalt der Natur. Er selbst kommt nicht in den Blick. Sein Interesse ist es, die Vielfalt zu ordnen und den Gegenstand seines Interesses zu fixieren, zu „stellen“, zum Bestand zu machen, d.h. zu töten. M.a.W. Sein Jagdeifer ist „zentriert“ auf die Definition, die Festlegung des Jagdopfers, sein Jagdinteresse ist befriedigt im Herstellen des „Bestands“, d.h. in der Tötung, im Herausschießen des Lebendigen, des Fremdartigen, des Widerständigen etc. Freilich ist sein Hunger dadurch nur kurzfristig gestillt, er wird in seinem Jagdeifer nicht nachlassen.
  • Gilles Deleuze nennt dieses wissenschaftliche Denken „zentrisch“, zentrierend, also die Vielfalt auf einen Gegenstand zusammendenkend, so dass er – für welche Interessen auch immer – „verfügbar“ wird. Die nazistische Zigeuner-Forschung stellt nur die extreme Form einer seit der Aufklärung bis heute mehr oder weniger unreflektierten zentrischen Praxis der wissenschaftlichen Denkweise dar. Aus dieser Wissenschaftskritik leitet Deleuze seine Forderung nach einer a-zentrischen Forschungsoptik ab : Als Wissenschaftler stehen wir inmitten der Vielfalt der Dinge, wir sind verwickelt in die Ereignisse, sind Produzenten von Wissen und zugleich deren Produkt. Unsere Aufgabe ist es, zu fragen und aus Fragen andere Fragen abzuleiten – mit dem Ziel, die Fixierungen des vergegenständlichenden Denkens in den gesellschaftlichen Institutionen und im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs in Frage zu stellen, d.h. fragend aufzubrechen.
  • Freilich kann damit das Denken nicht aufhören. Vielmehr geht es um den Versuch, „anders zu denken, als man denkt“ (Foucault ). Dazu gehört, den Begriff des Gegenstands der Forschung und das Forschungsdenken selbst „anders zu denken“, indem man den „Gegenstand“ nicht in „Bestandskategorien“ sondern als ein lebendiges Ensemble differenter Merkmale denkt. Michel Foucault hat dafür den Begriff „Dispositiv“ vorgeschlagen. Was ein „Dispositiv“ ist, lässt sich am besten mit seinen eigenen Worten klären:. Es ist „ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.“ Der „Gegenstand“ der hier angedachten, aus der Mitte heraus denkenden Forschung ist keine feste Größe mit erkennbarer Wahrheit, sondern ein komplexes bewegliches Ensemble des Zusammenspiels von Individuen im Geflecht materiell-institutioneller Bedingungen. Hier entstehen keine Antworten mit Wahrheitscharakter sondern Fragen, die zu neuen Fragen führen.
  • Extrem problematisch wird es, wenn die wissenschaftliche Forschung sich dem Objekt „Mensch“ zuwendet. Im forschenden Auge des Wissenschaftlers versteinert sich die lebendige Singularität in eine universelle Kategorie mit feststellenden Wesenszügen, Strukturen, Identitäten, denen – je nach Interesse – beliebige Merkmale zugeschrieben oder aberkannt werden können. Auch hier bietet die nazistische „Zigeunerforschung“ als Hilfsorgan für praktische Politik ein anschauliches Beispiel. Der Philosoph Emmanuel Levinas, dessen Familie dem Holocaust zum Opfer fiel, hat uns gelehrt, dass der Mensch sich jeder Art von wissenschaftlichem (und politischem) Zugriff prinzipiell entzieht. Und gerade diese fundamentale Unverfügbarkeit des „Anderen“ bindet die Wissenschaft (und die Politik) in eine Verantwortung, die nicht gewählt, also auch nicht abgewählt werden kann – eine ethische Grundhaltung, die in ihrem Forschungsverhalten dem Singulären, dem Lebendigen, dem Unvereinbaren – dem Nicht-Töten – verpflichtet ist. Die EZAF-Wissenschaftler ziehen daraus die Konsequenz, nicht über Roma und Sinti zu forschen, sondern – gemeinsam mit ihnen – die diskriminierenden (also fest-stellenden) Denksysteme der gesellschaftlichen Institutionen darauf hin zu befragen, inwieweit sie den Menschen – hier insbesondere Kindern und Erwachsenen der Roma- und Sintigemeinschaft – „Verwirklichungschancen“ (Amartya Sen) ermöglichen oder vorenthalten.
  • Es wird verständlich geworden sein, dass diese Forschungshaltung nicht in dem engen Konzept fakultativer Wissenschaftsdisziplinen realisiert werden kann. „Aus der Mitte“ heraus a-zentrisch zu forschen kann nur in „transdisziplinärer“ Kooperation von Wissenschaftler/innen gelingen, die sich der Problematik disziplinärer (auch inter- oder polydisziplinärer) Objektkonstruktion bewusst sind.

Praktische Kooperation

EZAF arbeitet mit den in den Organen der EU gewählten Roma- und Sinti-Vertretern kooperativ zusammen.

EZAF strebt auf der Basis des hier entwickelten Forschungskonzeptes die Kooperation mit (universitären und außeruniversitären) wissenschaftlichen Institutionen und gesellschaftlichen Organisationen europaweit an.

Gefördert werden darüber hinaus politische Initiativen, die aktiv daran mitwirken, die kulturelle Identität des Roma- und Sinti-Volkes einerseits zu stützen und andererseits zugleich den gesellschaftlichen Integrationsprozess positiv zu begleiten.